Sexualität und psychische Erkrankungen – Ein komplexes Zusammenspiel
Sexualität ist ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Lebens und trägt maßgeblich zu unserem Wohlbefinden bei. Bei Menschen mit psychischen Erkrankungen kann die Sexualität jedoch erheblich beeinträchtigt sein. Als Facharzt für Psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie möchte ich Ihnen einen Einblick in dieses komplexe Thema geben und aufzeigen, wie psychische Erkrankungen die sexuelle Wahrnehmung und das Erleben verändern können.
Veränderte sexuelle Wahrnehmung bei psychischen Erkrankungen
Psychische Erkrankungen können die sexuelle Wahrnehmung und das Erleben auf vielfältige Weise beeinflussen. Studien zeigen, dass Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen häufig Schwierigkeiten in ihrem Sexualleben erfahren.
Depression und Sexualität
Bei Depressionen ist eine veränderte sexuelle Wahrnehmung besonders häufig. Betroffene berichten oft von:
- Vermindertem sexuellem Verlangen
- Schwierigkeiten, sexuelle Erregung zu erreichen oder aufrechtzuerhalten
- Problemen beim Erreichen des Orgasmus
Eine Studie zeigte, dass bis zu 72% der Patienten mit unipolarer Depression und 77% der Patienten mit bipolarer Depression einen Verlust des sexuellen Interesses angaben.
Angststörungen und sexuelle Funktion
Auch Angststörungen können die sexuelle Wahrnehmung erheblich beeinflussen. Menschen mit Angststörungen erleben häufig:
- Vermindertes sexuelles Verlangen
- Erregungsstörungen
- Leistungsdruck und Versagensängste beim Sex
Diese Symptome können zu einem Teufelskreis führen, in dem die Angst vor sexuellem Versagen die sexuelle Funktion weiter beeinträchtigt.
Schizophrenie und sexuelle Selbstwahrnehmung
Bei Menschen mit Schizophrenie ist die sexuelle Selbstwahrnehmung oft stark verändert. Studien zeigen, dass schizophrene Patienten im Vergleich zu gesunden Personen:
- Eine höhere negative Emotionalität in Bezug auf Sexualität aufweisen
- Mehr Ängste vor sexueller Unzulänglichkeit haben
- Häufiger Gefühle der Verlassenheit und Isolation im sexuellen Kontext erleben
Primäre Erkrankungen mit veränderter Sexualität
Einige psychische Erkrankungen sind primär mit einer veränderten Sexualität verbunden:
Hypersexualität
Hypersexualität ist eine vorgeschlagene Diagnose, die durch übermäßiges oder zwanghaftes sexuelles Verlangen und Verhalten gekennzeichnet ist. Sie kann als eigenständige Störung auftreten oder als Symptom anderer Erkrankungen wie bipolarer Störung oder Demenz.
Paraphilien
Paraphilien sind sexuelle Präferenzen für ungewöhnliche Objekte, Situationen oder Personen. Sie können zu erheblichem Leidensdruck führen und das Sexualleben stark beeinträchtigen.
Sexuelle Funktionsstörungen
Sexuelle Funktionsstörungen wie erektile Dysfunktion, vorzeitige Ejakulation oder Orgasmusstörungen können sowohl psychische als auch körperliche Ursachen haben. Sie treten häufig im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen auf.
Komorbiditäten und ihre Auswirkungen auf die Sexualität
Psychische Erkrankungen treten oft gemeinsam mit anderen Störungen auf, was die Komplexität der sexuellen Problematik erhöht. Beispielsweise:
- Bei Menschen mit Depressionen ist das Risiko für sexuelle Dysfunktionen um 50-70% erhöht
- Patienten mit Angststörungen haben ein 33-75% höheres Risiko für sexuelle Funktionsstörungen
- Bei Schizophrenie-Patienten liegt die Prävalenz sexueller Dysfunktionen bei etwa 25%
Stigmatisierung und soziale Aspekte
Die veränderte sexuelle Wahrnehmung bei psychischen Erkrankungen wird oft durch soziale Faktoren und Stigmatisierung verstärkt. Viele Betroffene berichten von:
- Schwierigkeiten, intime Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten
- Gefühlen der Unattraktivität aufgrund ihrer psychischen Erkrankung
- Angst vor Ablehnung durch potenzielle Partner
Diese Erfahrungen können zu einem Teufelskreis führen, in dem soziale Isolation und sexuelle Unzufriedenheit sich gegenseitig verstärken.
Therapeutische Ansätze
Als Facharzt für Psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie ist es mir ein Anliegen, die sexuelle Gesundheit meiner Patienten ganzheitlich zu betrachten. Therapeutische Ansätze umfassen:
1. Psychoedukation: Aufklärung über den Zusammenhang zwischen psychischer Erkrankung und Sexualität
2. Kognitive Verhaltenstherapie: Bearbeitung negativer Gedankenmuster und Ängste in Bezug auf Sexualität
3. Paartherapie: Einbeziehung des Partners zur Verbesserung der Kommunikation und Intimität
4. Medikamentöse Behandlung: Sorgfältige Auswahl und Anpassung von Psychopharmaka unter Berücksichtigung sexueller Nebenwirkungen
5. Sexualtherapie: Spezifische Interventionen zur Verbesserung der sexuellen Funktion und des Erlebens
Ausblick und Forschungsbedarf
Trotz der Fortschritte in der Erforschung des Zusammenhangs zwischen psychischen Erkrankungen und Sexualität besteht weiterhin erheblicher Forschungsbedarf. Insbesondere sind weitere Studien erforderlich, um:
- Die genauen Mechanismen der veränderten sexuellen Wahrnehmung bei verschiedenen psychischen Erkrankungen zu verstehen
- Effektive Behandlungsstrategien zu entwickeln, die sowohl die psychische Erkrankung als auch die sexuelle Gesundheit berücksichtigen
- Die Rolle von Stigmatisierung und sozialen Faktoren bei sexuellen Problemen von Menschen mit psychischen Erkrankungen besser zu verstehen
Fazit
Die veränderte sexuelle Wahrnehmung bei psychischen Erkrankungen ist ein komplexes Phänomen, das erhebliche Auswirkungen auf die Lebensqualität der Betroffenen haben kann. Als Facharzt für Psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie ist es mir wichtig, diesen Aspekt in der Behandlung meiner Patienten angemessen zu berücksichtigen. Durch ein besseres Verständnis der Zusammenhänge zwischen psychischer Gesundheit und Sexualität können wir gezieltere und effektivere Behandlungsansätze entwickeln und so die Lebensqualität der Betroffenen verbessern.
Quellen:
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/30629043/
https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC4530100
https://www.issm.info/sexual-health-qa/do-mental-health-problems-have-an-effect-on-sexual-function
https://scielo.isciii.es/scielo.php?script=sci_arttext&pid=S0213-61632009000100004
https://en.wikipedia.org/wiki/Hypersexuality
https://uvahealth.com/services/mental-health/psychosexual-dysfunction
https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC9714433
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/37279603