Essstörungen – Komplexe psychische Erkrankungen mit vielfältigen Auswirkungen

Essstörungen gehören zu den häufigsten und gefährlichsten psychischen Erkrankungen unserer Zeit. Als Facharzt für Psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie möchte ich Ihnen einen umfassenden Einblick in dieses komplexe Krankheitsbild geben und dabei auch auf aktuelle Forschungserkenntnisse eingehen.

Formen von Essstörungen

Die häufigsten Essstörungen sind:

  • Anorexia nervosa (Magersucht): Gekennzeichnet durch extremen Gewichtsverlust, intensive Angst vor Gewichtszunahme und eine gestörte Körperwahrnehmung.
  • Bulimia nervosa: Charakterisiert durch wiederholte Episoden von Essanfällen, gefolgt von kompensatorischem Verhalten wie selbstinduziertem Erbrechen oder exzessivem Sport.
  • Binge-Eating-Störung: Regelmäßige Essanfälle ohne anschließendes kompensatorisches Verhalten.
  • Andere spezifizierte Fütterstörungen oder Essstörungen (OSFED): Essstörungen, die nicht alle Kriterien für eine der oben genannten Diagnosen erfüllen, aber dennoch klinisch bedeutsam sind.

Ursachen und Risikofaktoren

Die Entstehung von Essstörungen ist multifaktoriell bedingt. Genetische Prädisposition, neurobiologische Faktoren, psychologische Aspekte und soziokulturelle Einflüsse spielen eine Rolle. Aktuelle Forschungen zeigen zunehmend die Bedeutung von Hormonen wie Ghrelin und Leptin bei der Entwicklung von Essstörungen.

Symptome und Auswirkungen

Essstörungen beeinträchtigen nicht nur das Essverhalten, sondern haben weitreichende Auswirkungen auf die körperliche und psychische Gesundheit. Typische Symptome umfassen:

  • Starke Gewichtsschwankungen oder -verlust
  • Verzerrte Körperwahrnehmung
  • Exzessive Beschäftigung mit Essen, Gewicht und Figur
  • Sozialer Rückzug
  • Stimmungsschwankungen und depressive Symptome

Komorbiditäten

Ein besonders wichtiger Aspekt bei Essstörungen sind die häufigen Komorbiditäten mit anderen psychischen Erkrankungen. Aktuelle Studien zeigen, dass über 70% der Menschen mit Essstörungen mindestens eine weitere psychiatrische Diagnose aufweisen.

Persönlichkeitsstörungen

Besonders häufig treten Essstörungen in Kombination mit Persönlichkeitsstörungen auf. Mehr als 53% der Patienten mit Essstörungen weisen gleichzeitig eine Persönlichkeitsstörung auf. Insbesondere die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) zeigt eine hohe Komorbidität:

  • Bis zu 53,8% der Patienten mit BPS erfüllen auch die Kriterien für eine Essstörung
  • Etwa 25% der Patienten mit Anorexia nervosa und 28% mit Bulimia nervosa weisen eine Borderline-Persönlichkeitsstörung auf

Diese hohe Komorbidität lässt sich teilweise dadurch erklären, dass Essstörungen bei Menschen mit BPS als Form der Selbstverletzung oder zur Regulation intensiver Emotionen dienen können.

Weitere Komorbiditäten

Neben Persönlichkeitsstörungen treten häufig folgende Komorbiditäten auf:

  • Angststörungen (> 50%)
  • Affektive Störungen (> 40%)
  • Substanzmissbrauch (> 10%)

Diese Komorbiditäten erschweren oft die Behandlung und können den Krankheitsverlauf negativ beeinflussen.

Diagnostik und Behandlung

Die Diagnostik von Essstörungen erfordert eine umfassende Anamnese, körperliche Untersuchung und psychologische Evaluation. Aufgrund der hohen Komorbiditätsraten ist ein besonderes Augenmerk auf mögliche Begleiterkrankungen zu legen.

Die Behandlung von Essstörungen sollte multimodal erfolgen und umfasst in der Regel:

1. Psychotherapie: Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) und interpersonelle Psychotherapie haben sich als besonders wirksam erwiesen.
2. Ernährungsberatung und -therapie
3. Medikamentöse Behandlung: Insbesondere bei komorbiden Störungen wie Depression oder Angst
4. Familientherapie: Besonders wichtig bei jüngeren Patienten

Bei Vorliegen von Komorbiditäten, insbesondere Persönlichkeitsstörungen, ist eine integrierte Behandlung erforderlich, die beide Störungsbilder adressiert. Bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung und Essstörungen hat sich die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) oder auch die Schematherapie als vielversprechender Ansatz erwiesen.

Aktuelle Forschung und Ausblick

Die Forschung im Bereich der Essstörungen schreitet kontinuierlich voran. Aktuelle Studien konzentrieren sich auf:

  • Genetische und neurobiologische Grundlagen von Essstörungen
  • Entwicklung personalisierter Behandlungsansätze
  • Untersuchung der Rolle von Hormonen wie Ghrelin und Asprosin bei der Entstehung von Essstörungen
  • Erforschung neuer pharmakologischer Ansätze, wie z.B. die Rolle des metabotropen Glutamatrezeptor-Subtyps 5 (mGlu5) bei Bulimia nervosa

Ein vielversprechender Forschungsansatz ist die “Eating Disorders Genetics Initiative” (EDGI), die größte Studie zu Essstörungen, die darauf abzielt, genetische und Umweltrisikofaktoren zu identifizieren.

Fazit

Essstörungen sind komplexe psychische Erkrankungen mit weitreichenden Auswirkungen auf die körperliche und seelische Gesundheit. Die hohe Komorbiditätsrate, insbesondere mit Persönlichkeitsstörungen, stellt eine besondere Herausforderung in Diagnostik und Therapie dar. Eine frühzeitige Erkennung und eine ganzheitliche, auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmte Behandlung sind entscheidend für den Therapieerfolg. Als Facharzt für Psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie ist es mir ein besonderes Anliegen, Patienten mit Essstörungen umfassend und unter Berücksichtigung möglicher Komorbiditäten zu behandeln.

Quellen:

https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC10379623/
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/37800230
https://clearviewtreatment.com/resources/blog/connection-borderline-personality-disorder-eating-disorders
https://www.beateatingdisorders.org.uk/news/beat-news/largest-study-eating-disorders